Brüchiger Frieden im Südkaukasus

22.07.2020

Vor ein paar Tagen herrschten wieder Unruhen im Südkaukasus. Es waren vermehrt Schüsse, an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu hören. Die Region kennt seit dem Zerfall der Sowjetunion keine Ruhe. Stattdessen kennt sie drei Sezessionsgebiete, mehrere separatistische Bewegungen und gelegentliche Eskalationen der sogenannten eingefrorenen Konflikte, deren Eis allmählich schmilzt.

Brüchiger Frieden im Südkaukasus

Am 12. Juli 2020 gab die aserbaidschanische Seite an, von ihrem Nachbar angegriffen worden zu sein. Zum Angriffsobjekt wurden diesmal im Nordwesten gelegene Militärstützpunkte in der Nähe der Stadt Tovuz. Die bewaffnete Auseinandersetzung kostete die aserbaidschanischen Seite mehr als zehn Soldaten, darunter hochrangige Militärangehörige sowie ein Zivilist. Über die Verluste der armenischen Seite wird viel spekuliert. Das Verteidigungsministerium Aserbaidschans berichtete am 16. Juli von 20 menschlichen Verlusten auf armenischer Seite, während Armenien selbst lediglich von vier getöteten Soldaten sprach. Darüber hinaus ist unklar, wer und vor allem warum die Eskalation begann.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Seiten sich gegenseitig beschuldigen. Laut Armenier hätte ein Auto die Grenzlinie überschnitten, was im Endeffekt die Eskalation provoziert hätte. In einem Interview wies der außenordentliche und bevollmächtigte Botschafter Aserbaidschans in der Russischen Föderation, Polad Bül-Bül Oglu, diese Behauptungen hingegen zurück.

Die letzte Eskalation ums Gebiet Berg-Karabach im Südwesten Aserbaidschans liegt ca. vier Jahre zurück. Diese Ereignisse gingen in die Geschichte als „4-tägiger Krieg“ ein. Dagegen ist  die bewaffnete Auseinandersetzung um Berg-Karabach an sich mittlerweile nahezu 30 Jahre alt. Im Zuge der Loslösung von der kommunistischen Herrschaft wandelte sich der territoriale Streit in einen regelrechten Krieg. In Berg-Karabach lebende Armenier erklärten einseitig ihre Unabhängigkeit von Aserbaidschan. Der infolgedessen eskalierte Konflikt endete mit der Besetzung von einem Fünftel des Territoriums Aserbaidschans. Seitdem haben beide Staaten keine diplomatischen Beziehungen und die Grenze zwischen den Nachbarn bleibt nach wie vor abgeriegelt. Die geographische Nähe sowie gemeinsame Vergangenheit in der Sowjetunion konnte diese Staaten einander nicht näherbringen.              

Warum berührte man diesmal die Wunde ganz woanders?

Der 4-tägige Krieg fand in Berg-Karabach außerhalb der völkerrechtlich anerkannten Grenzen Armeniens statt. Diese Tatsache und die verbesserten Beziehungen zu Aserbaidschan schränkten den Handlungsspielraum der Kreml ein. Tovuz hat jedoch keinen Bezug zu Berg-Karabach und im Falle der Eskalation erhofft Armenien sich die Unterstützung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Armeniens Mitgliedschaft in dieser Organisation versichert ihm den Beistand von anderen Verbündeten. Die seitens Russlands initiierte und dominierte OVKS hat insgesamt sechs Mitglieder – Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Weißrussland. Trotz der Bemühungen Armeniens beeilen sich seine Verbündete jedoch nicht. Während man in Jerewan auf eine militärische Unterstützung wartet, bietet Moskau lediglich seine Hilfe als Vermittler an.

Der Premierminister Armeniens, Nikol Paschinjan, kam infolge der samtenen Revolution an die Macht. Jedoch fällt es ihm äußerst schwer, ein Gegengewicht zum armenisch-karabachischen Klan zu bilden.

Außerdem leidet das Land massiv unter der Corona-Pandemie. So musste die Regierung dreimal den Ausnahmezustand verlängern. Die Unzufriedenheit des Volkes und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom nördlichen Nachbar, der ohnehin auf russische Gelder angewiesen ist, wächst weiter. Unter diesen Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, dass versucht wurde, die öffentliche Aufmerksamkeit abzulenken.

Die Spannung in Baku steigt ebenso weiter. Tausende von Demonstranten fordern von der Regierung die endgültige Lösung des Konfliktes und Mobilisierung von Soldaten in Reserve.

So what’s next?

Heutzutage scheint eine rasche Lösung des Konfliktes unter Ilham Aliyev, Präsident der Republik Aserbaidschan, und Paschinjan in absehbarer Zukunft kaum möglich zu sein. Die politische Rhetorik Aliyevs gibt den Grund zur Annahme, dass weder das aserbaidschanische Volk noch die Regierung sich mit dem Status quo zufriedengeben wird. Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan wird bis zur endgültigen Lösung des territorialen Streits demnach ein Konfliktherd bleiben.

Die Entität „Arzach“ (Armenisches Wort für Berg-Karabach) hat ihr Dasein sowie die Beibehaltung des Status quo den regionalen Mächten, Iran und Russland, zu verdanken. Nur mit dem Einfluss der internationalen Akteure und deren konstruktiven Rolle können Friedensgespräche angestoßen werden. Die Tätigkeit der internationalen Akteure lässt zu wünschen übrig. So konnte beispielsweise die Minsker Gruppe Organisation der Sicherheit und Zusammenarbeit, die seit 1992 in diesen Konflikt involviert ist, keine positiven Änderungen hervorbringen.

 

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