Plädoyer für einen behutsamen Umgang mit Identitäten und Herkünften

07.10.2021

In meinem Text setze ich mich für einen friedlich-freundschaftlich-solidarischen Umgang mit „Identität“ und „Herkunft“ ein. Letztlich plädiere ich diesbezüglich für zutiefst empathische Behutsamkeit. Bis das benannte Ziel der Behutsamkeit erreicht ist, schlängle ich mit jeweils unterschiedlichen Gefühlen durch ein facettenreiches Mosaik aus Literatur, Alltagskommunikation, Berufswelt, Sport, Musik und Mode, Film- und Fernsehen sowie durch ein Benjamin Blümchen-Hörspiel.

Plädoyer für einen behutsamen Umgang mit Identitäten und Herkünften

Persönlicher Einstieg: ein Fotoalbum und die (zweifelhafte) Frage nach der Herkunft und Identität meines Kindes

Kurz bevor mein Kind sieben Monate alt wird, möchte ich eine Art Bilder-Chronik unseres ersten gemeinsamen Jahres als Geburtstagsgeschenk basteln. Nun ist diese Idee weder besonders originell noch neu. Ich weiß! Ich überlege, ob ich ein digitales Fotobuch mit entsprechenden Vorlagen von einschlägigen Firmen oder ein vermeintlich individuell(er) wirkendes Fotoalbum gestalten will. Während eines Spaziergangs mit dem Kinderwagen entscheide ich mich für ein Fotoalbum, in das ich die Fotos händisch einkleben werde. Handschriftlich sollen Datumsangaben und Ähnliches beigefügt werden. Es scheint persönlicher zu sein. Während ich in meinem Kopf die Unterschiede zwischen den beiden  Medien durchgehe, fange ich gedanklich zu singen an: „In einem schwarzen Fotoalbum mit nem Silbernenknopf bewahr ich alle diese Bilder im Kopf. Ich weiß noch damals als ich jung und wild war im Block. Ich bewahr mir diese Bilder im Kopf.“ Ich greife zu meinem Smartphone, zu den Kopfhörern und suche bei Spotify den Song von Sido. Wie war das noch mal mit dem Konservieren von Erinnerungen laut Sido? Ich mache laut und höre: „Konserviert und archiviert, ich hab’s gespeichert. Paraphiert und nummeriert, damit ich‘s leicht hab. Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet, weiß ich genau, wo man sie findet. In einem schwarzen Fotoalbum mit nem silbernen Knopf...“. Zurück zum Fotoalbum. Für wen oder für was mache ich es? Etwa für mich? Als vorgegriffene Reminiszenz? Als Selbstvergewisserung? Natürlich auch das. Als eine nachträgliche Vergewisserung? Als Affirmation? Als Beleg? Etwa für uns? Als Stiftung oder zur medialen  Konstruktion einer dokumentarischen und dokumentierten Einheit namens Familie? Etwa für das Kind? Bei Letzterem muten die Appositionen, also die Zusätze, schwerfälliger an. Ich gerate aus verschiedenen Gründen ins Stocken. Ich versuche beim Kind als Referenz appositionelle Zusammenhänge zu formulieren. Ich bastle ein Fotoalbum für unser erstes Kind als Erinnerungsdokument (das ist noch einfach) und als (wiederholt) einsehbare Quelle zur Selbsterforschung. Was lege ich dem Kind damit nahe? Die Möglichkeit herauszufinden, wer es ist? Woher es kommt? Damit bin ich mindestens bei Identität und Herkunft. Begriffe, die eine synästhetische Gedankenexplosion bei mir hervorrufen.

Literarischer Einstieg: Herkunft von Saša Stanišić als Startpunkt für Überlegungen im Kontext von Identität und Herkunft

Ich denke an das Buch Herkunft (2019) von Saša Stanišić und lese es erneut. Ich beschließe folgende Stelle meinem (wessen?) Fotoalbum als Motto voranzustellen:
„Herkunft (...) Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft“ (S. 32-33).
Stanišić macht deutlich klar, dass die Frage nach Herkunft diffizil ist. Es muss erst einmal herausgefunden werden, auf welche Topik sich die Frage bezieht. Folgende Topoi werden angeboten: Lage des Kreißsaals; nationale Grenzen, die fluide sind; elterliche Abstammung; Biophysiologie; Vorfahren oder sprachliche Aspekte. Inmitten all der Fragzeichen wird festgehalten, dass Herkunft geschaffen wird. Außerdem wird Herkunft mit einem erfahrenen oder widerfahrenen Akt der Ankleidung verglichen.

Wegbeschreibung und (Ver)Ordnung von Identität und Herkunft

Die Lektüre von Herkunft (ausgelöst vom Vorhaben, ein Fotoalbum zu gestalten) wurde für mich zum Auslöser für weitere, ein paar Wochen anhaltende Beobachtungen, Erinnerungen und Überlegungen. Diese sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart angehörigen Mosaiksteine und -steinchen werden in einem ersten Schritt mehr oder weniger assoziativ vorgestellt und kommentiert respektive moderiert. Sie differieren alle mindestens in Form, Gestalt, Gesinnung und Vorzeichen. Aber was ist der kleinste gemeinsame Nenner? Bei allen herangezogenen Beispielen geht es – abstrakt gesprochen – um Konsonanz und Dissonanz. Es geht – konkret gesprochen – um Formen der Gemeinsamkeit, Einheitlichkeit, Verbindung, Gleichförmigkeit, Anbindung und Ableitung (besonders Anbindbarkeit und Ableitbarkeit) sowie Formen von Unterschieden (auch Unterscheidbarkeiten). Es handelt sich dabei um Momente, die Identität und Herkunft (mit)grundieren. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Beispielen kann als ein (Fort)Bewegungsakt verstanden werden. Der textuelle Fortgang – eher ein Schlängeln als ein geradliniger Sprint – soll die Nicht-Linearität der Kategorien „Herkunft“ und „Identität“ nachzeichnen. Es geht nicht darum, schnellstmöglich in das Ziel zu kommen. Vielmehr manifestiert sich in der Metapher des Schlängelns auch ein anti-rationaler, anti-objektivierender oder anti-aufklärerischer Gestus in Bezug auf „Herkunft“ und „Identität“. Meine Botschaft am Ende dieses Textes – Plädoyer für einen behutsamen Umgang mit Identitäten und Herkünften – kann daher nur ein Etappenziel sein.

Beschämender Rassismus im Alltag

Im nun folgenden Abschnitt zeigt sich einmal mehr und einmal zu viel, wie tief verwurzelt alltagsrassistische Äußerungen in unserer Gegenwart sind.
Ich denke mit Entsetzen, Schaudern, Traurigkeit, Wut und Gänsehaut an ein Erlebnis in der Trambahn im März 2017. Mir saß ein Jugendlicher schräg gegenüber, und zwar so wie Jugendliche eben gelegentlich sitzen. Die Beine lässig und cool ausgestreckt; alles andere als platzsparend. Cool eben! Eine mir direkt gegenübersitzende Frau blickte den Jugendlichen böse an und schimpfte harsch: „Lernt man das in Afghanistan?“ Afghanistan war in dieser Zeit Zielscheibe einer heftigen Diskussion um sichere Herkunftsländer. Objekt dieser rassistischen Äußerung ist das Sitzen; das in den Augen der Sprecherin falsche Sitzen eines Jugendlichen. Die vermeintliche Frage konvergiert unter Bezugnahme des Kontextes (abwertende Tonalität, wütender Blick) zu einer rhetorischen Frage und damit zu einer Aussage. Das jugendkulturelle Phänomen des unökonomischen Sitzens im Zeichen der Coolness wird rassistisch mit Herkunft gleichgesetzt. Das situative und adoleszente Sitzen eines Jugendlichen wird verallgemeinert und ins Indefinite geschoben. So lässt sich das Indefinitpronomen (man) hier erklären. Vollends pejorativ und im Sinne des ‚Othering‘ wird hier das – in der Aussagenlogik – falsche Sitzen als Teil eines strukturell-systematischen Sozialisations- und Bildungsprogramm in Afghanistan (im Gegensatz zum deutschen Sitzen) vorgestellt und degradiert.

Kleider machen Leute

In der eingangs zitierten Textstelle von Saša Stanišić wird deutlich auf den Kostümcharakter von Herkunft verwiesen. Kostümierung – in Verzahnung mit Herkunft und Identität – steht damit unweigerlich mit ‚Maskerade‘ und ‚Verstellung‘ im Zusammenhang. Nun kann die Verstellung pejorativ als Schwindel und Täuschung gedeutet werden oder auch als (ver)wandelbar-aktionsorientierte Ver-stellung. Identität ist somit ver-stellbar und mindestens plural. Wie diese vestimentäre und verstellbare Identität, so oder so Maskerade, in unserer Kultur verhandelt wird, ist Teil des folgenden Abschnitts.
In Linda Zervakis zweitem Buch Etsikietsi. Auf der Suche nach meinen Wurzeln (2020) markiere ich unter anderem eine Kleider-Passage: „In meiner Straßenuniform spricht mich eigentlich selten jemand an. Die Fernsehzuschauer erkennen mich vielleicht im schwarzen Hosenanzug oder mit knalligem Blazer und offenem, glatt geföhntem Haar. Aber nicht mit einer bunten Mütze und Zopf“ (S.21). An den Buchrand  schreibe ich: Identität, Kleidung, erkennen. Das Wort erkennen unterstreiche ich doppelt. Beschrieben wird also ein Dresscode, mit dem die Fernsehzuschauenden einen Menschen als Nachrichtensprecherin erkennen. Erkennen heißt hier anerkennen und wiedererkennen/identifizieren sowie einordnen als (sprechendes) Subjekt der Nachrichtensendung. Gottfried Keller hat 1874 mit seiner bekannten Novelle Kleider machen Leute eindrucksvoll durchgespielt, wie das Tragen eines Mantels die gesellschaftliche Positionierung (mit)gestalten kann. Die gesellschaftliche Anerkennung des armen Schneiders als Graf ist mitunter angebunden an einen besonderen Mantel, der als vestimentärer Code für einen (höheren) Status (fehl)gedeutet wird. Der Kokon oder Mantel evoziert und grundiert bei der vorgestellten Gesellschaft eine Erwartungshaltung. Ausgehend von der Novelle können einige interessante Aspekte verdeutlicht werden. Keller legt dem Advokaten (!) eine gewisse Gewaltförmigkeit solcher Zuschreibungen, Klassifikationen oder Stereotypisierungen in den Mund: „dass ihm dieser Rang von andern gewaltsam verliehen worden“ (S. 57). Gleichzeitig wird dargeboten, dass die Zuschreibenden keineswegs dumm seien. Das  identifikatorische Potential von Kleidung lässt sich anhand von Sporttrikots ebenfalls festmachen. Das identitätsstiftende Moment von Marken ist strukturell vergleichbar. Herangezogen werden kann in diesem Kontext der Song  Louis Louis (2018) von Kay One, der nicht nur als eine Coverversion von Brother Louie (1986) der Band Modern Talking, sondern auch als Hommage an die Firma Louis Vuitton gehört werden kann. Dort heißt es: „Schuhe von Louis, Louis, Louis. Gürtel von Louis, Louis, Louis. Bei mir ist alles kariert“. Wenn alles kariert ist, wird – folgt man dem Text – die Marke vollends inkorporiert. Das Subjekt ist diese Marke. Es lassen sich zahlreiche musikalische Beispiele nennen, die genau jene markenorientierte Identitätskonstitution hörbar machen. Bei Capital Bra etwa heißt es im Song Nur noch Gucci (2017): „Nur noch Gucci, Bratan, ich trag nur noch Gucci“. Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie Identitäten durch und mit Kleidung schaffen. Wesentlich politischer sind die Kleidungsstücke des Modelabels Human Blood. Fashion for Friends. Dort können Hoodies, Taschen und Shirts mit anti-rassistischen Statements erworben werden (etwa „No Nationality“). Die Kleidung besitzt damit eine deiktische, also hinweisende Funktion. Das Tragen dieser Kleidung ist eng verzahnt mit dem Hinaustragen oder Hinausrufen der politischen Botschaft gegen Nationalismus. Vollzogen wird ferner aber auch der Kostümcharakter von Nationalität/Herkunft. Das Tragen dieser Kleidung spielt gleichzeitig den Inhalt ab. Das Zusammenspiel von Form und Inhalt ist phänomenal!

In aller Freund*innenschaft

Zugehörigkeiten und Dividuationen spielen in allen Lebensbereichen eine herausragende Rolle. ‚Bezogenheit‘ stiftet Sicherheit und vermittelt – pathetisch gesprochen – eine Art Weltkontakt oder eben Identität. Bezüglichkeit lanciert aber gleichermaßen den Differenzbereich, von dem sich das Bezogensein abgrenzt. Menschen sind dabei in verschiedene Teilhabe-Systeme integriert. Nationale und regionale Fankulturen sind Seismografen für Teilhabe-Kommunikationsformen. Im folgenden Abschnitt werden Teilhabe-Kommunikationen im Fußball und in Freund*innenbücher analysiert. Philipp Lahm beschreibt im Buch Das Spiel. Die Welt des Fußballs (2021) die integrative Funktion von Fußball: Der ehemalige Fußballprofi entwirft die Vision eines Arrangements aus nationalitätslosen Nationen (S. 227). Florian Schubert (2019) hält in einem Aufsatz fest, dass manche Fußballfans sexistische, homophobe, rassistische, antisemitische, antiziganistische, behindertenfeindliche und diskriminierende Kommunikationsformen verwenden (S. 105). Sportlicher Duellismus mutiert hier ins Abscheuliche. Nicht rassistisch, aber hochgradig abwertend sangen 2018 einige Fans vom VFL Wolfsburg folgenden Text: „Wir steigen ab, wir kommen nie wieder – wir haben Bruno Labbadia“. Bei diesem Fangesang handelt es sich um eine intrinsische Abwertung. Konstituiert wird eine Entität, die sich intrinsisch unterteilt in einen guten (An)Teil (die Mannschaft und die Fans vom VFL Wolfsburg) sowie den davon abgesonderten und abgewerteten Trainer. In den Sinn kommt mir das einzige Spiel, das ich in der Allianz Arena in München live gesehen habe: das erste Rückrunden Spiel zwischen Schalke 04 und dem FC Bayern. Ich weiß nicht mehr, wann es war; eventuell 2015. Es ist 1:1 ausgegangen. Boateng hat das Tor für die Bayern geschossen. Die Bayern Fans sangen: „Ihr seid Schalker, asoziale Schalker. Ihr schlaft unter Brücken oder in der Bahnhofsmission“. Die Schalker Fans sangen: „Wir sind Schalker, asoziale Schalker. Schlafen unter Brücken oder in der Bahnhofsmission“. Reinhard Kopiez und Guido Brink (2010) bezeichnen Lieder, die auf der „ihr seid“ und „wir sind“-Umdeutung basieren, als „selbstironische Äußerung“ (S. 97). Bildhaft heißt es: „Sie (= Fans, Anm. MP) ziehen sich den Schuh an, kehren seine Aussage um“ (ebd.). Was fasziniert mich an diesem Fangesang? Letztlich lässt sich diese Umdeutung noch präzisieren und theoretisch untermauern. Bei der „ihr seid“ und „wir sind“-Umkehrung handelt es sich um eine Resignifikation im Sinne poststrukturalistischer Ansätze (der Begriff spielt beispielsweise bei Judith Butler eine besonders große Rolle). Unter Resignifikation sind „sprachlich-symbolische Bezeichnungs- und Interpretationsprozesse“ (Posselt 2016, S. 87) gemeint, „die darauf abzielen, Ausdrücke, Begriffe oder auch soziokulturelle Praktiken und Produkte ihren spezifischen Kontexten zu entnehmen, sie umzudeuten und in anderen Kontexten wiederzuverwenden“ (ebd.). Indem die gegnerische Mannschaft eine gewaltsame Adressierung respektive Beleidigung (Ihr seid asoziale...) annimmt und als positive Selbstbezeichnung verwendet (wir sind asoziale...), erlangt sie Deutungshoheit (zurück). In der Dokumentation Schwarze Adler des Regisseurs Torsten Körner (2021) berichtet Jimmy Hartwig von einem vergangenen Spiel zwischen dem HSV und den Bayern, in dem die Bayern-Fans ihn minutenlang rassistisch beleidigten. Der ehemalige Fußballprofi – so seine rückblickende Erzählung in der Doku – wandte sich diesem Publikum zu und führte Bewegungen eines Dirigenten aus. Aus aktueller Perspektive kommentiert er lachend: „Ich habe den größten Idiotenchor der Welt dirigiert“. Was lässt sich hier beobachten? Jimmy Hartwig entreißt den rassistisch Beleidigenden das Wort und behält das letzte Wort qua Resignifikation. Perfomiert wird ein Akt der Selbstbehauptung. Er lässt die beleidigenden Worte ins Leere laufen, indem er in ein (absurdes) musikalisches Szenario ausweicht. Es ist anzunehmen, dass der Profi-Fußballer mehr schlecht als recht dirigiert. Die ,Dudelei‘ reicht aus, um den Beleidigenden ihr ‚Idiotentum‘ zurückzuspielen. Es werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen werden die Beleidigenden verlächerlicht und ihre Aussagen ad absurdum geführt. Zum anderen erfolgt durch das Dirigentenspiel als verrückt-verdrehte Annahme der Beleidigung eine identitätsstiftende Selbstkonstitution. Es gibt hierzulande mehrere Sportarenen (per se Tempel von antagonistischen Wettbewerben), die den Namen „Stadion der Freundschaft“ tragen. Zumindest als Auftrag lässt sich hier eine friedlich-freundschaftlich-solidarische Selbstbehauptung gegenüber anderen Teilnehmenden beobachten. Ich erinnere mich an die Freund*innen-Bücher in meiner Kindheit. In diesen Büchern schreiben, malen, basteln, archivieren und konservieren sich auch heute noch Freund*innen fest. Es gibt zwei Sorten dieser Bücher. Die einen haben einen festen Aufbau mit auszufüllenden Lücken. Die anderen bestehen recht schlicht aus leeren Seiten. Als Kind mochte ich die leeren Bücher lieber. Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Welche Felder bieten solche Bücher an? Letztlich sagen diese Felder etwas darüber aus, was wohl (für Kinder) identitätsstiftend/selbstdefinierend ist oder sein kann. Das erste Buch, das ich zufällig auffinde, bietet folgende Felder an: Foto; Name; Geburtstag; Adresse; Telefonnummer; Namen der Eltern; Kindergartengruppe; Name der Erzieher/in; was besonders Spaß macht; was nicht so gerne gemocht wird; was gerne gegessen wird; Lieblingsspiel; Lieblingsort; Lieblingsbuch; „Wenn ich groß bin, werde ich“; Lieblingstier; ein Feld für den eigenen Fingerabdruck; Alter; Augenfarbe; Haarfarbe; Lieblingsfarbe; Größe; und ein freies Feld für alles Mögliche wie z.B. Wünsche. Die Freund*innen-Bücher mit vorab festgelegten Lücken sind instruktiv, wenn man sich für Identitäten oder Identitätskonstruktionen interessiert. Was zeigen uns diese Bücher? Es ist gerade die Vielfalt an Feldern, Kategorien, Eigenschaften und Eigenarten, die einen Menschen konstituieren. Das „Ich“ ist eine situative Momentaufnahme, die aus mehr und weniger wandelbaren, leichter oder schwerer verhandelbaren, glücklichen und unglücklichen Zufällen, innerlichen und äußerlichen Attributen, Zuneigungen und Abneigungen geschaffen wird. Die Identitäts-Felder verdeutlichen neben der Pluralität aber auch die Existenz vorgefertigter „Plätze“ respektive Platzhalter, in die sich Kinder einschreiben können oder müssen, um ihre Identität im Buch offenzulegen. Bemerkenswert erscheint mir in der Logik dieser Freund*innen-Bücher auch die Koexistenz verschiedener Identitäten hintereinander. Zwar gilt, dass jedes Kind eine (Doppel)Seite für sich hat, jedoch erscheint der ausgrenzende Aspekt der anderen Kinder bei der Identitätsbewahrung nicht im Vordergrund zu stehen. Identität wird im hohen Maße (sicher auch nicht durchwegs) qua Selbstbeschreibung erzeugt und festgeschrieben. Das andere Kind (in der Seitenlogik davor oder danach) wird augenscheinlich nicht abgewertet. Strukturell erinnert mich diese friedliche Koexistenz verschiedener Identitäten hintereinander, nebeneinander (das Buch muss ja auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge gelesen, beäugt oder erfahren werden) und auch miteinander an Freund*innenschaften zwischen Fußballclubs. Zu denken wäre etwa an die berühmte Verbindung zwischen Schalke 04 und dem 1. FC Nürnberg. Diesem Bündnis wird mit einem Schal Rechnung getragen, der zweigeteilt ist. Die linke Seite des Schals ist blau für Schalke, wohingegen die rechte Seite rot für den Club ist.

Fixieren und Lösen: Benjamin Blümchen und die Relativität des Alters

In meinem Berufsalltag ist mir hin und wieder die Floskel „Wer schreibt, der bleibt“ begegnet. Der Akt des Schreibens prolongiert das Bleiben/das Sein. (Auf)Schreiben fixiert damit Existenz. Was geschieht aber, wenn das Aufschreiben vergessen wurde? Im anschließenden Abschnitt setze ich mich mit den Folgen dieser Leerstelle auseinander. Im Zusammenhang mit identitätsbezogener Offenheit kann eine Benjamin Blümchen-Episode (Benjamin im Krankenhaus) herangezogen werden. In dieser Episode geht es um einen Krankenhausaufenthalt von Benjamin. Während dieses Aufenthaltes macht er auf die tagesaktuelle Varianz seines Alters aufmerksam. Die Krankenschwester Jutta legt von Benjamin Blümchen, der sich den Rüssel gebrochen hat, ein Krankenblatt an. Sie fragt nach seinem Namen und seinem Alter. Benjamin teilt mit: „Weiß ich nicht. Als ich geboren worden bin, haben sie vergessen das aufzuschreiben (...). Also manchmal fühle ich mich wie 90. Heute zum Beispiel. Und wenn es mir gut geht, fühle ich mich wie 5. Macht zusammen 95. Wenn man das halbiert, dann wäre das 47,5“. Was wird in dieser Passage verhandelt, ausgehandelt und sichtbar gemacht? Ein Krankenblatt ist ein hochgradig normiertes Medium. Es handelt sich dabei um eine Schablone, die aus einer standardisierten, vorgefertigten und Eindeutigkeit suggerierenden Perspektive einen Menschen erfassen respektive einfassen oder identifizieren soll. Manchmal gelingt dieser Selbstbeschreibungsprozess. Häufig nicht! Benjamin weist darauf hin, dass das Alter mehr oder wenig relativ und von der Tagesform abhängig ist. Es kann sogar ein breites Spektrum annehmen (einmal 90; einmal 5). Außerdem räumt er ein, dass er es schlichtweg nicht weiß, weil keine*r es aufgeschrieben hat. ‚Aufschreiben‘ wird zum generativen Movens. Fehlt dieser hochgradig politische (!) Move wie im Falle Benjamins, dann fehlt die standardisierte Rückversicherung. Eine situative und tagesaktuelle Varianz bleibt übrig. Benjamin (er)kennt die grundsätzliche Variabilität (an). Damit hat Benjamin schon mehr verstanden als manch andere*....

Plädoyer für Behutsamkeit

Nach all den verschiedenen Konsonanzen und Dissonanzen möchte ich zum Abschluss wieder zu meinem Fotoalbum zurückkehren. Es beginnt mit dem Zitat von Saša Stanišić aus seinem Buch Herkunft. Enden wird es mit einem Zitat aus Linda Zervakis Text Etsikietsi. Auf der Suche mach meinen Wurzeln. Auf den letzten Seiten ihres Buches formuliert sie eine gewisse Unbestimmtheit im Hinblick auf die Erkundung ihrer – bereits im Untertitel erwähnten – Wurzeln: „Weiß ich inzwischen mehr über meine Wurzeln, über unsere Familie, über mich? Ich weiß es nicht“ (S. 200). Es ist gerade die postulierte Offenheit und Unbestimmtheit mit dem mein Fotoalbum als Dokumentation oder als was auch immer enden soll oder wiederum zum Ausgangspunkt für Neues werden soll. Mitgeben respektive schenken kann ich also nicht nur eine geraffte Konstruktion (!) des ersten gemeinsamen Jahres, sondern auch eine Bejahung zu identitätsbezogenen Fragezeichen, und zwar sowohl in der Selbstbeschreibung als auch in der Beschreibung anderer Menschen. Ist nicht die Erwägung einer allumfassenden, lückenlosen Klärung der Herkunft oder der Identität autoritär? Ist es diesbezüglich nicht gerade spannend, „Mut zur Lücke“ zu haben? Im Hinblick auf das teilweise teuflisch-aggressive Ringen um die Herkunft und die Identität in all den unterschiedlichen Facetten, plädiere ich für Behutsamkeit. Behutsamkeit kann dazu führen, Identitäten/Herkünfte (und diese sind niemals nur geografisch, nur geschlechtlich etc.) sowie Differenzen (oder Unterscheidbarkeiten) friedlich-freundschaftlich-solidarisch zu leben. Behutsamkeit inkludiert stets die Perspektive und das Gefühl für andere Menschen, ohne auf ein Anderssein zu fokussieren. Behutsamkeit ist lebendig und lebensbejahend. Menschen, die behutsam sind,  agieren selbstkritisch, lernbereit und fragen nach der Wirkung. Sie wollen nicht mit Worten und Taten verletzen. Behutsame Menschen erkennen Untertöne - beispielsweise in den meisten Fragen nach der  Herkunft - und autoritäre Gesten in ihren Aussagen. Behutsame Menschen hören zu. Sie versetzen sich in andere Menschen hinein. Behutsamkeit bedeutet, dass (auch) die ‚Anderen‘ sprechen. Behutsamkeit kennt nur eine Augenhöhe...


Verwendete Literatur:

  • Keller, Gottfried: Kleider machen Leute, Stuttgart 2017. Kopiez, Reinhard und Brink, Guido: Fußball-Fangesänge. Eine Fanomenologie, 5. Auflage Würzburg 2010. Lahm, Philipp: Das Spiel. Die Welt des Fußballs, München 2021.
  • Posselt, Gerald: „Resignifikation“, in: Babka, Anna und Posselt, Gerald: Gender und Dekonstruktion. Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie. Unter Mitarbeit von Sergej Seitz und Matthias Schmidt, Wien 2016, S. 87-88.
  • Schubert, Florian: Abwertung als soziale Abgrenzung im Fußballstadion. Spielwiese für gesellschaftliche Diskriminierung und neonazistische Interventionen, in: Thole, Werner; Pfaff, Nicolle und Flickinger, Hans-Georg (Hrsg.): Fußball als soziales Feld. Studien zu sozialen Bewegungen, Jugend- und Fankulturen, Wiesbaden 2019, S.105-114.
  • Stanišić, Saša: Herkunft, 2. Auflage München 2020.
  • Zervakis, Linda: Etsikietsi. Auf der Suche nach meinen Wurzeln, 3. Auflage 2020 Hamburg.
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