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Losverfahren als Antwort auf die Krise der Demokratie?

04.03.2018

Ob in Form von vermehrt aufkommenden rechtspopulistischen Bewegungen, mangelnder Wahlbeteiligung oder allgemeiner Politikverdrossenheit, europäische Demokratien sehen sich aktuell einer Vielzahl von Krisen gegenübergestellt. Weisen diese Phänomene auf eine allgemeine Krise der Demokratie hin?

Losverfahren als Antwort auf die Krise der Demokratie?
Quelle: privat

In einem Essay für Die Große Regression richtet David van Reybrouck das Wort an den Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker. Reybrouck warnt vor der möglichen Auflösung der EU, die er fundamental mit dem Vertrauensverlust in das ‘Establishment’ in Zusammenhang bringt. Beseelt von diesem Geiste fordert er „eine Reform der Verfahren, um die Menschen wieder dazu zu bringen, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen.“ Die Mittel der Bürgerbeteiligung, die bisher in Verwendung sind, weisen starke Defizite auf. So ist die eigene Stimme bei der hergebrachten Wahl für vier Jahre übertragen und der Bürger von aktiver Beteiligung entbunden. Dies befördert mitnichten die Auseinandersetzung der Bevölkerung mit dem politischen Prozess. Auch historisch wurden Wahlen nach der Amerikanischen und Französischen Revolution nicht abgehalten, um alle Bürger zu ermächtigen, sondern eine natürliche Aristokratie zu schaffen. Ein Referendum andererseits reduziert komplexe Sachverhalte auf einfache Ja/Nein Entscheidungen und ist oft an die allgemeine politische Leistung einer Regierung gebunden. „Wenn es darum geht, den Menschen zu ermöglichen, ihre politischen Ideale zum Ausdruck zu bringen, sind Wahlen und Referenden also eher mangelhafte Instrumente.“ Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, manifest etwa im Brexit oder der Wahl von Donald Trump, weisen auf ein prinzipielles Defizit. Insbesondere Europa leidet an einem Demokratiemüdigkeitssyndrom. Symptomatisch hierfür ist das Referendenfieber, Parteiaustritte oder auch schwache Wahlbeteiligung.In Europa stehen diejenigen die sich repräsentiert fühlen gegen diejenigen die sich nicht repräsentiert fühlen.

Das Losverfahren

Als Lösung schlägt Reybrouck das zentrale Prinzip der athenischen Demokratie vor: Das Losverfahren – auch verwendet in den Renaissancefürstentümern Florenz und Venedig. „Beim Losentscheid müssen nicht alle über etwas entscheiden, wovon nur wenige wirklich etwas verstehen, sondern die Idee besteht darin, dass ein zufällig ausgewählter Teil der Bevölkerung sich schlau macht und dann sinnvolle Entscheidungen trifft.“ Die Option möglicherweise ausgewählt zu werden kann allgemein repolitisierend wirken. Reybrouck schlägt vor, dass bezüglich der EU jedes Land etwa 100 Bürger lost. Diese sollen sich dann zu der Frage beraten, wie man die EU bis 2020 demokratischer gestalten könnte. Im Anschluss wäre auch eine „Multiplechoice Referendum“ möglich, wo jeder Bürger drei aus 25 Vorschlägen wählen könnte. So würde die Bevölkerung eine aktive gestalterische Rolle einnehmen.

House of Lots

Groß angelegte Experimente des amerikanischen Professors James Fishkin zeigen, dass es einen enormen positiven Effekt auf die Zustimmung und die Willensbildung von Bürgern durch das Losverfahren gibt. Eine Vielzahl an Projekten versucht diese Idee der deliberativen Beteiligung zu popularisieren. Besonders spannend ist etwa der Versuch einer Reform des Wahlsystems in den Niederlanden durch das Burgerforum Kiesstelsel oder die Erarbeitung neuer Verfassungsartikel durch die “Convention on the constitution” in Irland. Natürlich gibt es auch Überlegungen langfristige, gesetzgebende, losbasierte Organe zu schaffen. Reybrouck pointiert in seinem Buch Gegen Wahlen insbesondere fünf Modelle. Beispielhaft ist etwa der Vorschlag von Anthony Barnett und Peter Carty. Diesem liegt die Absicht zu Grunde das britische House of Lords zu demokratisieren (bisher wird die Mitgliedschaft vererbt). Das House of Lords soll zu einem House of Peers umgestaltet werden. Die neuen Mitglieder sollen gelost werden. Barnett und Carty räumen dieser ersten Kammer jedoch keine Gesetzesinitiative ein, sie soll Gesetzesvorschläge auf Sinnhaftigkeit und Verfassungsgemäßheit prüfen. Den Mitgliedern soll eine starke finanzielle Unterstützung sowie eine Beratung durch Experten zukommen, um allgemeine Ungleichheiten aus dem Weg zu schaffen. Der deutsche Professor Hubertus Buchstein hat einen ähnlichen Vorschlag für die EU vorgelegt. In seinem Modell soll eine neue zweite Kammer geschaffen werden – das House of Lots. Die Mitglieder sollen proportional auf die Länder unter der gesamten erwachsenen Bevölkerung gelost werden. Auch hier sollen die finanziellen und organisatorischen Bedingungen der Art gestaltet werden, dass es prinzipiell jedem möglich ist zu partizipieren – wenn er/sie gelost wird. Seiner Kammer sollen im Gegensatz zu Barnett und Carty jedoch Initiativrechte, Empfehlungsrechte und Vetorechte zukommen – um den demokratischen Defiziten in der EU entgegenzuwirken.

Zukunftsräte

Auch die deutschen Politikwissenschaftler Patrizia Nanz und Claus Leggewie haben sich in ihrem Buch Die Konsultative mit einer Art Losverfahren auseinandergesetzt (wenn auch in einer anderen „Schlagrichtung“). Im Vordergrund steht hier stärker die lokale Ebene. Sie entwickeln das Konzept der Zukunftsräte, einer dauerhaften Einrichtung einer Gemeinde oder eines Stadtteils, die der Erarbeitung von zukunftsorientierten/langfristigen Lösungsvorschlägen dienen soll. In die besagten Zukunftsräte sollen circa 20 Personen gelost werden, wobei trotzdem die Bevölkerung nach ökonomischem Stand und Alter abgebildet werden soll. Die Autoren sprechen von einer „qualifizierten Zufallsauswahl“, die zudem als Motor der Generationengerechtigkeit dienen kann. Die Mitglieder werden auf zwei Jahre bestimmt und erhalten für diese Zeit eine Aufwandsentschädigung. Weiterhin sollen ihnen alle relevanten Informationen an die Hand gegeben werden, wobei die Bildung von Expertenräten zu vermeiden ist. Begegnen soll diese Konzept dem Problem, dass langfristige oder schwierige Reformen/Problemstellungen oft durch den Präsentismus der Politik verdrängt werden, da diese zumeist auf die nächste Wahl konzentriert ist. Ganz nach dem Motto „All politics is local and has global effects“, ist außerdem auch eine Vernetzung der Zukunftsräte bis zur Ebene der EU möglich. Das Ziel der Zukunftsräte ist Unterstützung durch dezentralen Bürgerverstand (also das Einbringen von Reformvorschlägen, beispielsweise bezüglich Klima oder Steuern). Damit eine gewissen Effektivität gewährt ist, müssen die repräsentativ-demokratischen Instanzen gegen die Zukunftsräte rechenschaftspflichtig sein. Des Weiteren muss eine institutionalisierte Begründungspflicht bei Ablehnung des Vorschlags bestehen (für das erfolgreiche Institutionalisieren von Bürgerbeteiligung gibt es bereits Beispiele). Bei erheblichen Auswirkungen des Vorschlags des Zukunftsrats auf die Bevölkerung kann auch auf das Instrumentarium der Volksabstimmung zurückgegriffen werden.

Welches Modell ist zu bevorzugen?

Diese Frage hängt davon ab, was diese „demokratische Erweiterung“ bewirken soll. Meines Erachtens sollten Reformen von relevanten Themenkomplexen im Vordergrund stehen. Es ist eines der größten Defizite der Demokratie, dass Reformen und Entscheidungen oft davon beeinflusst sind, wie der Stimmgewinn für die eigene Partei maximiert werden kann. Weiterhin können die repräsentativ-demokratischen Organe einen großen Teil des Tagesgeschäft in guter Form bearbeiten. Eine komplette Kammer, die gelost wurde, läuft Gefahr mit Tagespolitischen Fragen ausgelastet zu werden und relevante (große) Reformen aus dem Blick zu verlieren. Zudem scheint es zumeist für grobes Fehlverhalten allgemeine check-and-balances zu gibt. Oft scheitern Reformen ja nicht am Handeln des politischen Akteurs, sondern eben am nicht Handeln. Trotzdem ist auch eine gewisse Form von Institutionalisierung und Kontinuität von Nöten. Reformen bedürfen oftmals Nachbesserungen und Begleitung. Auch klug erarbeitet Konzepte können sich in ihr Gegenteil verkehren, wenn sie mit der Realität konfrontiert sind, wie etwa die Entwicklungszusammenarbeit oftmals bewiesen hat. Dies legt nahe, dass mit den Zukunftsräten ein gutes (und auch gut realisierbares) Konzept vorliegt! Es bliebe in der Realität zu prüfen, ob die Einflussmöglichkeiten groß genug bemessen wurden, um den Reformvorschlägen genügend Gehör zu verschaffen.

Reybrouck, David van: Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Wallstein 216. 200 Seiten. 17,90 €
Nanz, Patrizia & Leggewie, Claus: "Die Konsultative." Wagenbach 2016. 112 pages. 9,90 €

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