Das Spiel mit der menschlichen Kognition. Über Smartphones im körperlichen Nahraum

17.04.2020

Jede Person, die über ein Smartphone verfügt, handelt mit diesem individuell und persönlich. Es erfüllt offizielle und private Zwecke. So dient es bei der Arbeit beispielsweise als Hilfe bei der Koordination von Terminen, gleichzeitig werden private Nachrichten an Partner:innen und Freund:innen versendet; mit verschiedenen Apps wird sich die Zeit vertrieben, in der Galerie befinden sich gleichsam Fotos für die Arbeit wie für das Familienalbum.

Das Spiel mit der menschlichen Kognition. Über Smartphones im körperlichen Nahraum

Außerdem dient es als Informationsquelle und Navigationshilfe. Eine Vielzahl von Akteur:innen handelt auf diese oder ähnliche Weise mit dem Gerät, sodass das alltägliche Handeln auf aggregierter Ebene zur Wissensressource wird. Denn das Handeln mit dem Smartphone erzeugt Daten, die Informationen über das Individuum beinhalten. Diese werden gesammelt und können von verschiedenen Unternehmen ökonomisch und politisch nutzbar gemacht werden. Kaerleins Diagnose lautet: „Die Verwendung von Smartphones im Rahmen alltäglicher, ja banaler Praktiken, die selten reflexiv durchdrungen werden, macht gleichsam blind gegenüber ihrer apparativen Dimension“ (33). Hier schließt sich nahtlos der gegenwärtige Diskurs zum gefährdeten Status der Privatheit an, was Kaerlein als wichtig anerkennt, doch betrifft seine Diagnose einen weiterreichenden Aspekt. Es gehe um die übergeordnete Dimension des Menschseins in einer zunehmend vernetzten Welt (33).

„Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des Alltags“ von Timo Kaerlein ist seine 2017 vorgelegte Dissertation, die der transcript Verlag im Bereich Medienwissenschaften, Kategorie digitale und soziale Medien, veröffentlicht hat. Das rund 360 Seiten zählende Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Ein erster Blick auf das sehr ausdifferenzierte Inhaltsverzeichnis lässt vermuten, dass der Autor der Leserschaft einiges vermitteln möchte. Dementsprechend gestalten sich die Erwartungen an die Lektüre bei der Lesenden.                         

Die theoriegeleitete Arbeit Kaerleins beginnt mit einer terminologischen und systematischen Annäherung an das Thema. Technische Objekte wie das Smartphone, die sich im körperlichen Nahraum befinden, versieht er mit dem Neologismus ‚digitale Nahkörpertechnologie‘. Aufgrund ihrer komprimierten Größe, Form und der temporalen Intensität ihrer Nutzung, weisen sie einen privilegierten Körperbezug auf (31). Thema des Buches sind die daraus entstehenden unüberschaubaren Kontexte der technischen Vernetzung, die aus der Benutzung dieser Objekte hervorgehen. An der Vielzahl an Publikationen in diesem Bereich ist erkennbar, dass es sich um eine allgemein relevante Thematik handelt. Allein transcript hat in der Kategorie digitale und soziale Medien 65 Monographien und 55 Sammelbände veröffentlicht.           

Von Selbstbestimmtheit zum kontrollierten Netzwerkkapitalismus

Insgesamt folgt das Buch dem Aufbau einer gewöhnlichen wissenschaftlichen Arbeit. Große Teile widmen sich der Problematisierung des Smartphones als technisches Gerät. Um die Beziehung zwischen Individuum und technischem Objekt nachvollziehen zu können, führt der Autor das Smartphone zurück auf die Idee des Personal Computers, beginnend mit seinem militärtechnischen Hintergrund. Unter der Berücksichtigung beteiligter Personen und Unternehmen erfährt die Leserschaft detailliert die Entwicklung des portablen internetfähigen (Klein-)Computers. So umfangreich und ermüdend diese Seiten der Lesenden erscheinen – da sie eigentlich nicht den Fokus des Buches bilden – ist nichts desto trotz ein Aspekt besonders erwähnenswert. In den 1960er und 1970er Jahren wandelte sich die Technik der Computer, die nach der militärischen Nutzung im konventionellen Büroalltag Verwendung fand. Erstmal wurde damals der Wunsch laut, den Computer als persönliches Werkzeug, als „flexibles Super-Tool“ (110), verwenden zu wollen. Die innerhalb des Militärs verbreiteten Vorstellungen von Produktivitätssteigerung und effizientem Informationsmanagement, erfuhren durch die Personen der amerikanischen Gegenkultur – namentlich der „technikaffinen Hippies“ (110) – einen Prozess der kreativen Umdeutung und Aneignung. Damit verbunden wurden Vorstellungen von Autarkie, Selbstbestimmtheit und Individualität, die ein Personal Computer erfüllen sollte. Aus heutiger Sicht klingt das fast naiv, konnten doch diese Vorstellungen in Zeiten des globalen Netzwerkkapitalismus „ungebrochen in ökonomische Anforderungskataloge übersetzet [werden]“ (115). Auch heute ist die Vermischung beider Vorstellungen, jener des Militärs und jener der amerikanischen Gegenbewegung, erkennbar. So ist das heutige Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gleichsam fokussiert auf individuelle Leistung, Kreativität und ästhetische Mobilisierung, worin eben auch Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien eine zentrale Rolle spielen.   Im Hauptteil der Arbeit betrachtet Kaerlein die anthropomedialen Kopplungsverhältnisse des Menschen mit dem technologischen Objekt (Smartphone). Dabei kommen verschiedene theoretische Ansätze zur Sprache: Das Affordanz-Konzept von James J. Gibson aus der Wahrnehmungspsychologie, die kulturwissenschaftlich-sozialanthropologische Klassifizierung von Körpertechniken nach Marcel Mauss sowie die physiologisch-psychoanalytisch geprägte Modellierung des Körperschemas von Paul Schilder. Bei der Auswahl dieser Ansätze wird ein transdisziplinärer Zugriff auf das Thema deutlich, was einerseits eine Bereicherung darstellen kann. Andererseits wird eine Verwirrung während der Lektüre erzeugt, da nicht deutlich wird, in welcher Disziplin sich Kaerlein mit seiner Arbeit verorten möchte. So ist die Lesende während des Lesens stets dabei auszuloten, in welchem theoretischen Kontext sich die Arbeit gerade befindet. Wenn Kaerlein dann das Smartphone als verkörpertes Objekt dem inhärenten technologischen Unbewussten des Gerätes gegenüberstellt und zur Erörterung wiederum drei Modelle verschiedener Disziplinen zur Hilfe nimmt – Apparatusdebatte, Medialität von Infrastrukturen, Medienökologien – verstärkt sich das Gefühl der Verwirrung. Nichts desto trotz erzeugt dieses Hin-und-Her-Wenden den deutlichen Effekt, dass die Benutzung des Smartphones tatsächlich unüberblickbare Auswirkungen mit sich bringt. Da sich diese auf vielerlei Ebenen bemerkbar machen, ist es lohnend, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Außerdem würde bei der Verwendung nur einer Theorie die Gefahr bestehen, einige Aspekte auszuklammern. Jedoch wäre es wünschenswert dies im einleitenden Teil des entsprechenden Kapitels deutlicher zu markieren.            

Die menschliche Kognition ist nicht im Stande, die Vernetzung der Geräte nachzuvollziehen

Dem im Titel genannten diffus anmutenden Begriff der ‚Kybernetisierung‘ wird, mit zwei kürzeren Kapiteln am Ende der Arbeit, im Vergleich nur wenig Raum geschenkt. Überraschend, denn handelt es sich nicht nur um einen Teil des Titels, sondern ist er neben dem Neologismus ‚digitale Nahkörpertechnologie‘ – dessen Bedeutung relativ leicht zu entschlüsseln ist – jenes Wort, das einerseits am undeutlichsten ist und andererseits dadurch die meisten Fragen aufwirft. Dass diesem Punkt nun die kleinste Aufmerksamkeit zu Teil wird, ist dementsprechend wenig befriedigend. Schließlich soll hierin die Conclusio Kaerleins münden, indem er neben den ökonomischen auf die politischen Auswirkungen bzw. Implikationen eingeht, die aus dem Handeln mit dem Smartphone hervorgehen. Als zentrales Ergebnis seiner Arbeit konstatiert Kaerlein, dass durch den Gebrauch der vielfach vernetzten Geräte „die Erfahrung des Alltäglichen beeinflusst und das urbane Environment in eine Technosphäre verwandelt [wird], die veränderte Affordanzen gegenüber mobilen Körpern bereithält“ (306). Hierbei handelt es sich um eine Erkenntnis, die zwar als Tatsache nicht anzuzweifeln ist, doch wird das Neuartige vermisst. Des Weiteren benennt Kaerlein die „körpernahen Empfangsorgane“ (306) als „elementaren Bestandteil einer flächendeckenden Kontrollarchitektur, die Techniken wie Data Mining, Social Sorting und Predictive Analytics kombiniert“ (306). Auch hier kann nicht an den Fakten kritisiert werden, doch bleibt die Frage nach der neuen Erkenntnis. Auf vorangegangenen Seiten hat Kaerlein anhand einer Fülle von Material (Literatur) den Weg der Beziehung von Smartphone zu Individuum nachvollzogen. Er schlussfolgert daraus, dass die Mehrheit der Benutzer:innen die Folgen ihres Handelns nicht ausreichend reflektieren und möchte an dieser Stelle zu einem größeren Bewusstsein anregen. Allerdings sei die menschliche Kognition generell nicht im Stande, die Vernetzung der Geräte und den Weg der Daten nachvollziehen zu können (311). Die Ausführungen laufen unter dem Begriff Daten-Behaviorismus zusammen, mit dem beschrieben wird, dass aus gesammelten Daten der Benutzer:innen Handlungen prognostiziert und Verhaltensempfehlungen abgeleitet werden. Zusammen mit neuen Interfaces wie Smartwatches, Fitnessarmbändern, implantierten Chips und ähnlichem, die ihrerseits wiederum spezifische Verkörperungsprozesse mit sich bringen, wird eine Vielzahl an Daten gesammelt, die politisch wie ökonomisch nutzbar gemacht werden. Dieser Ausblick soll nach Kaerlein danach fragen, wie diese digitalen Nahkörpertechnologien das „In-der-Welt-sein“ (314) der Nutzer:innen in Zukunft transformieren werden. Künftig soll sich damit die entstehende medienwissenschaftliche Interface-Forschung beschäftigen, zu der Kaerlein einen terminologischen und analytischen Beitrag leisten wollte. Anschließende Forschung solle Interface-Prozesse nicht isoliert betrachten, sondern vor allem zu einer Transparenz der politisch-ökonomischen Zusammenhänge beitragen (315). Mit politischen Zusammenhängen sind dabei konkreter Machtstrukturen gemeint, die – angelehnt an Foucault – auf Überwachung und biopolitischer Kontrolle beruhen. Dieses Fazit erscheint jedoch, geschuldet dem großen Umfang und weiten Bogen durch die Historie des Computers wie dem langatmigen Abwägen verschiedener Theorieansätze, zu einfach. Dieser Eindruck entsteht, da sich beispielsweise Andreas Bernard dezidiert mit eben jenem Gedanken des Ausblicks beschäftigt, dessen Stimme hier jedoch vermisst wird. Ebenso wenig finden Christoph Bareither, Caja Thimm oder Thomas Christian Bächle Erwähnung, die gleichermaßen in diesem Themenfeld forschend tätig sind.   

Ein Beitrag zur Interface-Forschung

Es ist zu schlussfolgern, dass das Buch in erster Linie informieren und einen umfassenden Überblick bieten möchte. Es leistet einen terminologischen Beitrag und ist durch die saubere Ausarbeitung ein gelungenes Buch. Jedoch ist der Mehrwert an Wissen für eine informierte Person nicht erkenntlich. Dafür wäre ein kritischeres Fazit wünschenswert gewesen. Auch unter Bezugnahme oben erwähnter Personen. Außerdem möchte die Arbeit einen der Anfangsbeiträge zu medienwissenschaftlichen Interface-Forschung leisten, sodass neue(re) Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären. Beispielsweise eine ausführlichere Ausarbeitung der zu Anfang erwähnten Gedanken über die zentrale Dimension des Menschseins. So verbleibt der Text obwohl der sauberen Ausarbeit an der Oberfläche und überlässt die konkreten Fragen als Ausblick für künftige Forschungen. Das äußert sich bei der Lesenden in Enttäuschung wie auch Verwunderung, da beim Autor offensichtlich genügend Wissen vorhanden gewesen wäre, um weiter in die Tiefe gehen zu können. Die Forschungsleistung besteht in der detaillierten und gut recherchierten Ausarbeitung. Durch die vielen Wiederholungen innerhalb der Kapitel wirkt es ermüdend, um es als Ganzes zu lesen; doch ist es dadurch sehr gut geeignet, um in einzelne Kapitel einzusteigen, ohne, dass Wissenslücken entstehen. Als Dissertation ist das Buch für die engere wissenschaftliche Community gedacht. Die leichte Sprachverständlichkeit ließe aber auch die Öffnung für ein breiteres Publikum zu. Empfehlenswert ist es trotz dessen nicht für den Laien, sondern vielmehr für eine breite Gruppe von Studierenden, die sich einerseits bereits mit dem Thema auskennen und nur einzelne Kapitel herausgreifen oder aber für jene, die noch über wenige bis keine Kenntnisse verfügen. Das Buch kann dann als Einstieg in den Themenkomplex gelesen werden. Durch seine Fülle an Informationen sollte es wohl in keiner Universitätsbibliothek vermisst werden.  

Timo Kaerlein (2018): Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien – Zur Kybernetisierung des Alltags. Transcript: Bielfeld. 34,90€.

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