Bruno Latours Ausrufung des Kriegszustandes. Geopolitik, Klimabewegung, Utopie und der Kampf um Gaia - ein Kommentar.

06.01.2021

"Facing Gaia" (dt. „Kampf um Gaia“) geht auf die "Gifford-Lectures" zurück, die der französische Soziologe Bruno Latour 2013 an der University of Edinburgh hielt. Darin plädiert er dafür, anzuerkennen, dass wir unter einem neuen Klimaregime leben, welches es notwendig mache, erneut geopolitisch zu denken.

Bruno Latours Ausrufung des Kriegszustandes. Geopolitik, Klimabewegung, Utopie und der Kampf um Gaia - ein Kommentar.

Latour greift hierfür insbesondere auf das Denken des im NS-Regime engagierten Staats- und Völkerrechtlers Carl Schmitt zurück, den er gleichsam aus dem "Giftschrank" zieht und seiner Leserschaft in "kleinen Dosen" verabreicht, um seine These des Freund-Feind-Bildes in Sachen Kampf für das Klima zu untermauern. Dieses Nachleben des geopolitischen Denkens zwecks Bewältigung einer konstatierten ökologischen Krise kann als ebenso überraschend wie schillernd und letztlich nicht nachvollziehbar interpretiert werden. Im Folgenden wird der siebte Vortrag der Reihe kommentiert.

Der Mensch und Gaia 

Bruno Latour legt in seinem siebten Vortrag „Die Staaten (der Natur) zwischen Krieg und Frieden“ von „Kampf um Gaia“ eine Dichotomie als Voraussetzung zugrunde, die es zu verstehen gilt, um seinen Gedanken folgen zu können. Es gelte die Vorstellung des modernen Menschen, sich von der Natur abzusetzen und diese zu überwinden. Ferner gehe dieser von einer gegebenen und stabilen Natur aus, die als eine Art Container imaginiert werden kann, in welchem der Mensch einen festen Platz hat und der weiter besteht, auch wenn der Mensch aus diesem Gefüge herausgenommen würde. Demgegenüber steht die Erkenntnis, dass das Verhalten des Menschen unmittelbaren Einfluss auf die Natur hat und vice versa. Hierdurch wird verdeutlicht, dass der Mensch Teil der Natur ist. Nun konstatiert Latour, dass es fortan keinen Sinn mehr mache, weiterhin von ‚Natur‘ zu sprechen, da der Begriff die Einbettung des Menschen in das Erdsystem verfehle. Passender ist daher die Verwendung der Bezeichnung ‚Ökologie‘. Diese Wechselwirkung entspricht demzufolge keiner festen Natur mehr und wird bei Latour mit Gaia beschrieben. Durch seine Einbettung in die Umwelt ist der Mensch gleichermaßen Gaia. Die aus der griechischen Mythologie stammende Göttin der personifizierten Erde wurde von den Wissenschaftler:innen Lynn Maylis und James Lovelock in den 1970er Jahren als Basis für die von ihnen formulierte Gaia-Hypothese verwendet. Die Erde wird hier als selbstorganisierter, lebendiger Planet, kurz als Organismus verstanden. Latour verwendet die Schlussfolgerung der Hypothese, die Ökologie der Erde bestimmte die Gegenwart, und präsentiert sie als allgemeines Modell der Welterklärung im 21. Jahrhundert. Der moderne Mensch befindet sich heute im Anthropozän, jenem Erdzeitalter, das ausschließlich vom Menschen geprägt ist. Latours Ausführungen folgen dem Ziel die Leser:innen und Zuhörer:innen der Gifford Lectures, im Rahmen dessen die Vorträge 2013 in Edinburgh abgehalten wurden, wachzurütteln und deutlich auf das aufmerksam zu machen, was gegenwärtig passiert. Der Klimawandel ist seit mehreren Jahrzehnten eine Realität, das Wissen darüber ist der Politik seit vielen Jahren bekannt, doch nichts hat sich geändert. Erst kürzlich kam die Meldung, der Kohleausstieg solle bis 2038 stattfinden – das ist in 18 Jahren.

Politisierung der Wissenschaft – Von Krieg und Frieden

Eine Änderung der Verhältnisse ist Latour folgend nur über eine Politisierung der Wissenschaft herbeizuführen. Passenderweise sprach der Physiker und Philosoph Harald Lesch 2016 im Rahmen einer Veranstaltung der Grünen/Bündnis 90 und teilte den Zuhörer:innen dort u.a. unmissverständlich mit: „Es handelt sich tatsächlich darum anzuerkennen, dass es eine absolute Größe im Hintergrund gibt und die wird sich auch nicht ökonomischen Zielen zuwenden". Diese absolute Größe im Hintergrund kann mit Latours Verwendung von Gaia gleichgesetzt werden. Durch die Verwendung der Mythologie, durch das Sprechen in Edinburgh im Rahmen der Gifford Lectures, welche die sog. Nature Religions als Basis verstehen, lässt er die Grenzen zwischen Mythologie, Wissenschaft, Religion und Politik verschwimmen. Was zunächst verwirrend erscheint, entpuppt sich als rhetorisches Mittel. So macht die Verwirrung der verschiedenen Disziplinen unmittelbar Latours Forderung nach dem erneuten Zusammenbringen verschiedener Denkrichtungen deutlich, die vorher als strikt voneinander getrennt betrachtet wurden. Latour schafft sich mit dieser ‚Grenzüberschreitung‘ einen neuen Beschreibungsrahmen für das, was gegenwärtig passiert. Sein Text ist dabei als Anklage zu verstehen, dass das, was die Wissenschaft beschreibt, von der Politik nicht umgesetzt wurde und wird. Er fordert daher die oben genannte Politisierung der Wissenschaft. Zur Erreichung des Ziels, nämlich der Rettung des Planeten in letzter Sekunde, ist Latour bereit bis ans Äußere zu gehen und spricht sich daher für den Übergang in einen Kriegszustand aus. Er kritisiert, dass die heutige Gesellschaft lediglich Gegner und keine Feinde kennen würde und unterstützt seine Aussagen mit einem Freund-Feind-Bild, das er von Carl Schmitt entlehnt. Erst nach dem Übergang in jenes Bild könne Politik betrieben werden. Die Bewegung FridaysforFuture ist im Latour’schen Denken daher nicht politisch, als dass sie ein Bild von einem Gegner vor Augen hat, der zur Einsicht gebracht werden muss. Darin enthalten ist ein pädagogischer Impetus, der davon ausgeht, die Wahrheit müsse ‚lediglich‘ unter die Menschen gebracht und diese von der Wahrheit überzeugt werden. Ein Feind jedoch ist zu bekämpfen. Dieser „Kriegszustand“ (Latour 2017, u.a. 397) ist schließlich notwendig, um überhaupt wieder in einen Zustand des Friedens zurückkehren zu können. Grundannahme ist, dass das Aushandeln darüber, wie sich die Zukunft gestalten soll, ein politischer Akt sein muss. Die Umwelt – und das gibt auch Harald Lesch zu denken – formuliert von sich aus keine Handlungsanweisungen. Diese Aufgabe wird auf den Menschen zurückgeworfen. Wer gegen wen in den Krieg ziehen soll drückt Latour deutlich aus:

Mit dem Anthropozän stehen die MENSCHEN [Hervorhebung im Original] im Krieg nicht mit der NATUR [Hervorh. im Orig.], sondern mit… ja, mit wem denn eigentlich? […] Es müßte [sic!] ein Erkennungszeichen sein, das die sogenannten MENSCHEN [Hervorh. Im Orig.] unterscheidet, das ermöglicht, ihre obersten Autoritäten anzugeben, ihre Epochen, ihren Boden, kurzum ihr Kosmogramm, statt sie alle in einer unförmigen Masse aufgehen zu lassen. […] Ich habe mich für ERDVERBUNDENE [Hervorh. Im Orig.] entschieden (Englisch Earthbound). Ich weiß, wie gefährlich es ist, das Problem derart ungeschminkt zu formulieren, aber ich bin gezwungen zu sagen, daß [sic!] im Anthropozän Menschen und ERDVERBUNDENE [Hervorh. Im Orig.] akzeptieren sollten, gegeneinander in den Krieg zu ziehen. Um die Dinge im Stil einer erdgeschichtlichen Fiktion zu formulieren: Die im HOLOZÄN [Hervorh. Im Orig.] lebenden MENSCHEN [Hervorh. Im Orig.] stehen in Konflikt mit den ERDVERBUNDENEN [Hervorh. im Orig.] des ANTHROPOZÄNS [Hervorh. im Orig.]“ (Latour 2017, 418).

Losgelöst von Nationalstaaten, politischen Parteien, wissenschaftlichen Disziplinen oder Ethnien soll der Feind in jenen Personen gefunden werden, welche dem modernen Denken anhängen.

Die Klimabewegungen der letzten Jahre betrachtend, erinnern Latours Ausführungen, der eingeschriebene Frust und Unmut, das Unverständnis gegenüber dessen, dass die Welt schlicht so weiterläuft, als stünde nichts auf dem Spiel, als ginge es nicht um Leben und Tod, an die Bewegung Extinction Rebellion (kurz: XR). Sie halten Vorträge mit den Überschriften „Aufstand gegen das Aussterben“ und sie erklären die Rebellion – Latour den Krieg. Auch XR hat genug von Flugblättern und Petitionen, die versuchen wollen aufzuklären, aber keine Veränderung herbeigeführt haben.                       

Das Freund-Feind-Bild gründet Latour, u.a. auf Carl Schmitt und auf geopolitische Ansätze, etwa die klassische Beschreibung von Geopolitik als einen Prozess des Außen und des Innen, wie sie sich in Friedrich Ratzels "Politischer Geographie" von 1897 findet. Latour führt aus, es wurde sich stets um das Außen, die Expansion, gekümmert, während dem Innern wenig Beachtung geschenkt wurde. Anders ausgedrückt: Innere Konflikte wurden verschoben, weil es im Außen neue Welten gab, die eingenommen werden ‚konnten‘. Heute ist sich jeder Raum angeeignet worden und der Mensch ist gezwungen, mit dem Inneren, der Intensität der Gestaltung der eigenen Landnahme auseinanderzusetzen. Damit wird der Boden direkt politisch und das geopolitische Moment in Latours Text kommt eindeutig zum Vorschein.

Den Planeten verlassen oder doch zurück zur Natur?                         

Doch nicht wenige, es ist anzunehmen vorwiegend Personen im Silicon Valley, träumen von einer transhumanistischen Zukunft: Die ersehnte Verschmelzung von Technik und Mensch, das Ablegen des Biologischen des Menschen. Das Gehirn in die Cloud geladen – Unsterblichkeit. Aber wie wäre Unsterblichkeit in einer zerstörten Welt? Der Planet wird aller Voraussicht nach als physisches Objekt in der Galaxie weiter existieren, doch die Umwelt wird sich wohl immer schneller verändern, bis sie unbewohnbar für den Menschen (und viele andere Lebewesen) sein wird. Das beschreibt ein zentrales Paradoxon. Die Technik, bestenfalls Künstliche Intelligenz, kann den Menschen wohl nicht aus dieser Situation retten, wie auch Richard David Precht in einem Beitrag  näher ausführt:

Wir müssen wieder lernen, dass wir ein Teil der Natur sind. Und wir müssen lernen, dass wir nicht näher mit Maschinen verwandt sind, als mit der Natur, sondern dass wir in der Natur auch dann einbehalten sind, wenn wir über vielerlei technische Möglichkeiten verfügen. Und ich glaube dieser neue Blick, uns selbst wieder als Teil der Natur zu sehen, ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir diesen Planeten tatsächlich vielleicht noch retten können.

Und so ist es schließlich das, was Latour kritisiert: Das Charakteristische des modernen Menschen, sich bevorzugt mit dem Außen, einem Eskapismus, zu beschäftigen, der lieber den Planeten verlässt, sich lieber vorstellt, wie es wäre unsterblich zu sein, anstelle sich konkret darum zu kümmern, wie wir die Umwelt weniger oder auf eine Weise beeinflussen können, dass die Menschen der Zukunft auch noch eine bewohnbare Umwelt vorfinden.

Das neue Klimaregime

Was bedeutet nun dieses „Neue Klimaregime“ (Latour 2017, 392), das von Latour ausformuliert wird? Er selbst definierte den Begriff in einem Eintrag zur Glossolalia, einem Projekt im Rahmen der Ausstellung „Critical Zones. Horizonte einer neuen Erdpolitik“, die ab Ende Juli 2020 im Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe stattfindet:

[…] Durch die extreme Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen haben die Menschen, ohne es zu merken, ein neues Klimaregime geschaffen. Das Klima ist keine Gegebenheit mehr, an die sich die Menschen so gut wie möglich anpassen müssen und die innerhalb gewisser Grenzen schwankt, sondern zum dringendsten und umstrittensten Thema der Politik geworden. Heute definiert die Haltung der Menschen zur Klimasituation individuelle Grundwerte viel besser als die Frage, ob sie politisch links oder rechts stehen. Paradoxerweise ist ein ganz offenkundig natürliches Phänomen – das Klima – zu einem eindeutig politischen Gegenstand geworden – der Zustand des Klimas. So wie Frankreich nach der Revolution vom Ancien Régime zum Nouveau Régime überging, so ist auch der ältere Ausdruck »Regimewechsel« zum Schlagwort des Zeitalters geworden.

Schließlich soll wohl das komplexe Zusammenwirken von Mensch und Umwelt durch Gaia simplifiziert und verdeutlicht werden, doch erschwert sich der Zugang zugleich, da es sich um eine mythologische Figur handelt, die überhaupt nicht den Anspruch hat, greifbar zu sein. Als Muttergottheit ist sie etwas Übergeordnetes, Transzendentes. Doch geht es hier um die Eingebundenheit des Menschen in seine Umwelt, was bereits so abstrakt ist, dass es eben offensichtlich nicht begriffen wird. Der Versuch Latours eine Figur für das Zusammenspiel zu verwenden, um Abstraktes konkreter zu machen, ist zwar nachvollziehbar und anzuerkennen, doch wird durch den Rückgriff auf eine mythologische Figur das Abstrakte nicht in den Bereich des Konkreten überführt, sondern lediglich in einen anderen Teil des Abstrakten.

Zuletzt wäre zu überlegen, ob es sich bei Latours Text tatsächlich um eine Neuheit handelt, so wie er es selbst beschreibt (vgl. Latour 2017, 16); sind doch auch aus anderen Disziplinen bereits ähnliche Gedanken zu hören gewesen, namentlich in der Politischen Ökologie, der Kulturökologie oder Umweltanthropologie (u.a. Steward 2006). Auch diese Ansätze haben die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt als gemeinsamen Ausgangspunkt und plädieren gleichsam für ein holistisches Denken. Der Unterschied zu „Kampf um Gaia“ besteht somit im Ausruf zum Kampf, zum Kriegszustand, der bei den genannten Richtungen allerhöchstens zwischen den Zeilen gelesen werden könnte. Abschließend ist „Kampf um Gaia“ daher wohl als Art politisches Manifest zu lesen, indem Bruno Latour als (Geistes-)Wissenschaftler genau das macht, was er fordert, er politisiert sich.

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