Christian Krachts Debütroman „Faserland“ aus dem Jahr 1995 trieft vor Sexismus und Homophobie. Phänomene, die man unter dem fast schon abgedroschenen Begriff der toxischen Männlichkeit subsumieren könnte. Dennoch wird der Roman unter dem Deckmantel der Fiktion der Kunst gefeiert. Während Gregor von Rezzori Krachts „Präzision der Wahrnehmung“ lobt, stellt sich die Frage, wieso die vermeintlich präzise Wahrnehmung nicht als sexistisch, homophob und degradierend erkannt und dementsprechend problematisiert wird.
Folgt man dem Lob des Schriftstellers Rezzori und nimmt an, dass der Protagonist, der, wie man es aus so vielen anderen Büchern kennt, natürlich in Ich-Form von seinem Da-sein berichtet, eine außerordentlich präzise Wahrnehmung besitzt, erscheint diese Annahme eher entlarvend für die Toxizität der männlichen Gedankenwelt als bewundernswert. Generell wirkt die Krachtsche Erzählung weder besonders intelligent noch mit einer hohen Beobachtungsgabe versehen. Frauen, die in Krachts Erzählwelt auftauchen, werden stets sexualisiert und beispielsweise beim Treffen auf einer Party als hübsch, aber dumm charakterisiert. (Kracht, S. 97)
In Faserland reist der Ich-Erzähler perspektiv- und ziellos einmal durch ganz Deutschland, seine Wahrnehmung des Geschehenen wird immer wieder von Erinnerungen an vorher Erlebtes durchzogen. Dies geschieht in einer solchen Regelmäßigkeit, dass der Verdacht aufkommen könnte, Kracht sei nichts Besseres als notorisch redundante Rückblicke eingefallen. Das Ganze gipfelt in einem hinter einer abgedroschenen Metapher verborgenen Suizid, der eher langweilt als schockiert.
Was der Roman mit der Darlegung der Gedanken des Ich-Erzählers bezwecken möchte, bleibt unklar und wurde viel diskutiert. Soll der Protagonist als Identifikationsfigur dienen? Allein die Annahme dies sei ein valider Interpretationsansatz erschreckt enorm. Denn es kommt in Krachts Roman in keiner Weise zu einer Problematisierung der von Homophobie und Sexismus durchzogenen Gedanken des Ich-Erzählers. So ist er Teil von Konstrukten toxischer und hegemonialer Männlichkeit, wenn er sich in Begegnungen mit anderen Menschen als dominanter Part inszeniert. Sein Gedankengut ist von Misogynie und Heterosexismen durchtränkt, was er sich auch nicht scheut nach außen zu tragen. In der Rezeption und Kritik von Krachts Debütroman wird ein solches Verhalten zwar aufgegriffen, jedoch geschieht dies auf fragwürdige Weise. Etwa interpretiert der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, der Protagonist leugne die eigene Homosexualität durch das offensichtliche Ablehnen dieser und schütze durch das permanente Nachaußentragen männlich konnotierter Verhaltensweisen den Schein der Heterosexualität. Dieser Interpretationsansatz begegnet dem Verhalten des Protagonisten nicht nur relativierend, ferner kommt es zu einer pathologisierenden Betrachtung des Protagonisten. Unbeachtet bleibt dabei die Tatsache, dass ein solches Verhalten eine Fortführung toxischer Maskulinität wäre, nicht aber eine Erklärung selbiger.
Doch wieso werden Romane solcher Art nach wie vor gern gelesen und viel verkauft? Braucht es zur Unterhaltung nicht mehr als ein weiteres Dokument, das als Zeitgeist einer ganzen Generation getarnt, daher kommt, still und heimlich Sexismus fiktionalisiert und in den Köpfen der Leser:innen reproduziert?
Möchte ich mich stumpf unterhalten lassen, gibt es ausreichend niedrigschwelligere Literatur, die nicht - oder zumindest weniger offensichtlich- von Diskriminierung durchsetzt ist. Was soll Faserland? Warum nicht einfach Charlotte Link lesen?
Es bleibt eine letzte Option der Interpretation: Kracht will, ohne dass es dafür Anhaltspunkte im Roman gibt, Männlichkeit problematisieren, den Habitus des Protagonisten überzogen darstellen und so auf den sexistischen Gestus aufmerksam machen. Doch braucht es dafür gut 150 Seiten Bewusstsseinstrom nach sechs Gläsern Sekt?
Außerdem, wieso wird das Angreifen von Kunst und ihren Inhalten nach wie vor durch den Ansatz hermeneutischer Interpretationen verhindert? Die Essayistin und Schriftstellerin Susan Sontag stellt richtig fest, dass Kunst dadurch „manipulierbar und bequem“ würde (Sontag, S.13).
Das fehlende Reflexionsvermögen des Protagonisten wird jedoch – ob mit oder ohne Interpretationsansatz – auch hier nicht problematisiert oder näherer Beachtung geschenkt. Anders geschieht dies in Literatur der Gegenwart wie beispielsweise in Leif Randts Allegro Pastell, welches hier zu einem kurzen Vergleich herangezogen werden soll. Dieser ist besonders interessant, da beide Bücher ein hohes Identifikationspotenzial bergen, jedoch der elementare Unterschied der Darstellung von Reflexion besteht. Matthias Ubl beschreibt das Leben der beiden Protagonist:innen Tanja und Jerome als „durchkuratiert und superreflektiert“ (Ubl, S. 49). In Allegro Pastell vollzieht sich eine der Optimierung geschuldeten Hyperreflexion, die genau wie das Nicht-Reflektieren des Protagonisten in Faserland unbequem und unangenehm ist. Man könnte meinen die besonders ausgeprägte Reflexion oder eben das bewusste Auslassen ebendieser, entspräche dem Zeitgeist der porträtierten Generationen: Die Unbeschwertheit der Neunziger versus die sich heute vollziehende ständige Optimierung des Großstadtmenschen in jeglichen Bereichen des Lebens. Beide Lebensentwürfe erscheinen fast zwanghaft. Doch selbst wenn dies so wäre, wozu muss dann der Protagonist als diskriminierendes Wesen erscheinen? Folgt Diskriminierung aus Unbeschwertheit?
Kritisiert man Inhalte der Künste, werden Stimmen laut, man müsse die Persona der Künstler:innen von ihren Inhalten trennen undsoweiterundsofort. Ja, dies muss geschehen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. In welchem Rahmen diese Problematisierung stattfinden kann, ab welchem Zeitpunkt eine solche gerechtfertigt ist, beschäftigt die Kunsttheorie natürlich grundsätzlich und ist eine streitbare Frage. Fantasiert Lindemann in Lyrik von Vergewaltigung, muss dies problematisiert werden und eine Konfrontation stattfinden. Wenn Künstler:innen also ihr ganzes Leben Sexismen und/oder andere Diskriminierungsformen in Künsten reproduzieren, ohne sich davon zu distanzieren, wird die Person wohl sexistisch sein und Künste für eine perfide Strategie des Teilens ebendieser Gedanken verwenden. Dabei ist es vielleicht sogar egal, ob es sich dabei um Gzuz, Christian Kracht oder Jonathan Meese handelt.
Baßler, Moritz Der deutsche Poproman: Die neuen Archivisten. München: Beck, 2002.
Kracht, Christian Faserland Hg. o. A. München: Goldmann, 1997.
Sontag, Susan Kunst und Antikunst. Hg. u. übs. v. Mark W. Rien. München: Carl Hanser Verlag, 1980.
Ubl, Matthias „Die groben Unterschiede". Jacobin. (2/2020) S. 46-49.
Am 2. Juni 2020 wurde die App Instagram nicht wie sonst von Fotos der abonnierten User*innen dominiert, sondern zeigte schwarze Quadrate, die eine mediale Anteilnahme und digitale Partizipation weltweiter Proteste gegen rassistische Polizeigewalt anlässlich des Mordes an George Floyd zeigen sollten.
„Der schlanke steinerne Schatten, die Replik des himmlischen Regenbogens, Meisterwerk des Baumeisters Hajrudin, eine der schönsten und edelsten architektonischen Allegorien, ist dahingegangen auf den Grund des Flusses. Der Stadt, geboren im Zeichen der Brücke, entrissen wurde ihr erstes und letztes Wort, und ihr Tod ist, so fürchte ich, unwiderruflich“ (Bogdanovic, S. 139). Ähnlich wie Bogdanovic empfand auch der kroatische Franziskaner – Pater Daniel, als er sagte „Der Tag, an dem die alte Brücke zerstört wurde, war der Todestag unserer Stadt. […] Als sie fiel, war das Herz der Stadt Mostar zerstört“ (Koschnick, Schneider, S. 8-9).
Vor ein paar Tagen herrschten wieder Unruhen im Südkaukasus. Es waren vermehrt Schüsse, an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu hören. Die Region kennt seit dem Zerfall der Sowjetunion keine Ruhe. Stattdessen kennt sie drei Sezessionsgebiete, mehrere separatistische Bewegungen und gelegentliche Eskalationen der sogenannten eingefrorenen Konflikte, deren Eis allmählich schmilzt.
Niko Gäbs Polemik „Critical Highness“ weist darauf hin, dass es im postkolonialen Diskurs Leerstellen in Bezug auf Antisemitismus gibt. Dies zeigt nicht zuletzt die Debatte um den postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe (Cheema/Mendel 2020). Auch Edward Said, Koryphäe der postkolonialen Theorie, steht im Verdacht „die Grundlagen eines sich postkolonial gerierenden Antisemitismus“ (Salzborn 2018, 124) zu formulieren. Nichtsdestotrotz liegen Gäbs Text einige Missverständnisse zugrunde, die wir im Rückgriff auf postkoloniale Theorien und neuere theoretische Entwicklungen erhellen wollen.