Critical Highness: Anmerkungen zu Kapital und Mythos

16.05.2020

Die Diskussion über Rassismus ist endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Postkoloniale Selbstreflexion und Antirassismus gehören im bürgerlichen Milieu zum guten Ton.  Welche autoritären Sehnsüchte dabei von Critical-Whiteness-Apologeten manchmal auf die Agenda gesetzt werden, ist trotzdem alles andere als unbedenklich.

Critical Highness: Anmerkungen zu Kapital und Mythos

Durch die strukturelle Reproduktion von Diskriminierung in der Gesellschaft scheint die Aufklärung und Moderne ihr Versprechen – die Verwirklichung von universellen Rechten und Freiheiten – nicht zu halten. Der europäische Kolonialismus ist dafür ein tragisches, aber treffendes Beispiel. Ist es deshalb aber zulässig, den modernen Universalismus zugunsten einer identitären Machtlogik gänzlich zu verwerfen? Und was hat der postkoloniale Angriff auf Kapital und Gesellschaft mit Antisemitismus zu tun?

Postkolonialer Ethnokitsch

Angesichts der eigenen postkolonialen Verantwortung westlicher Gesellschaften tritt in vielen öffentlichen Debatten ein radikaler Kulturrelativismus an die Stelle des aufklärerischen Universalismus. Kern dieses kulturellen Partikularismus ist der Gedanke, dass marginalisierte Gruppen als Sozialgefüge über eine gemeinsame, authentische und vor allem unveränderliche Identität verfügen, die ihnen durch okzidentale Machthegemonien geraubt wurden und so den eigenen kollektiven Authentizitätsanspruch strukturell behindern. Nicht nur unter Ethnologie-Studierenden führt diese Überzeugung zu leidenschaftlichen Interventionen: Voller Selbsthass für die eigene (weiße!) Hautfarbe wird sowohl das Dreadlock-Tragen zum moralischen Tatbestand verklärt, als auch die gesamte europäische Moderne unter Generalverdacht gestellt. Die Frage nach dem guten Leben wird zum Kampf um kulturelle Identitäten, der längst nicht mehr nur in US-Universitäten geführt wird, sondern auch diesseits des Atlantiks repressive Interventionen gegen Kunst- und Kulturveranstaltungen zu verantworten hat.

Bezeichnend für diesen gut gemeinten, aber völlig verfehlten, Antirassismus ist die Strategie, „alles und jeden auf eine vermeintliche Identität und hierarchische, antiemanzipative Vorstellungen von irreversiblen ‚Sprechorten‘ innerhalb von Gesellschaften“ (Salzborn: 2018. S. 28) zu reduzieren. Wichtig ist nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Diese Entwicklung in liberalen Gesellschaften ist brandgefährlich: Wenn die Frage nach dem guten Leben eine partikulare wird, geraten nicht nur die aufklärerischen Errungenschaften der Moderne – wie die Gleichheit vor dem Gesetz, die Säkularisierung oder das bürgerliche Freiheitsideal – in die Bredouille, sondern werden auch Tendenzen zum Antisemitismus sichtbar, dem man sich doch eigentlich längst entledigt fühlte.

Mit Blick auf die Genese des globalen Antisemitismus spielt der postkoloniale Kampf um kulturelle Identität und Authentizität eine Schlüsselrolle. So besteht ein folgenschwerer Irrtum jener identitärer Züchtigungen darin, Kultur als Ware zu begreifen, die sich besitzen und dem entsprechend auch verteidigen ließe. Die Ideologie der kulturellen Aneignung, der zufolge ein als homogen imaginierter weißer (und am liebsten männlicher) Aggressor die authentischen und kollektiv-fixierten Elemente einer Minderheitenkultur bewusst enteigne, ist hierfür ein treffendes Beispiel. Die Re-Essenzialisierung von Kultur wird zum Akt des Widerstandes romantisiert. Diese Ethnisierung der Gesellschaft hat weitreichende Konsequenzen, weil sie die Entmündigung des Subjekts institutionalisiert: Sich für – und insbesondere gegen – die Zugehörigkeit zu einem sozialen Kollektiv zu entscheiden, obliegt nicht mehr dem individuellen Subjekt, sondern dem „Diktat von subkulturellen Hegemonien“ (Salzborn: 2018. S. 101).

Damit zeigen postkoloniale Aktivisten nicht nur, dass ihr Kulturverständnis hinter das von Johann Gottfried Herder (1744-1803) zurückfällt, der sich Kulturen immerhin noch als homogene Gefüge vorstellte, die wie in einem Kugelstoßpendel gleichmäßig aufeinandertreffen, sondern beweisen zugleich, wie radikal man eine falsche Kapitallogik verinnerlicht hat: Statt die Verwertungslogik der Kapitals als für die Akkumulation zwingend notwendigen Vorgang zu begreifen, wird sie in der postkolonialen Kapitalismuskritik zum moralischen Tatbestand verklärt. Die kapitalistische Verwertungslogik wird nicht mehr als universelle Struktur begriffen, die sich gleichermaßen gegen alle Subjekte richtet (und zugleich von ihnen hervorgebracht wird), sondern als repressive Maßnahme ihres Repräsentanten, des weißen Mannes, kritisiert. Durch diese Personalisierung des Kapitals erscheint es irrtümlicherweise als etwas Greifbares und damit Bezwingbares.

Personalisierung des Kapitals

Das Ärgerliche an der Moderne sind ihre Widersprüche. Und der Strukturwandel vom Industrie- zum Kulturkapitalismus hat die Lage nicht übersichtlicher gemacht. War es beispielsweise bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch möglich, im Vertrauen auf das eigene Klassenbewusstsein sich als Teil eines verbindlichen politisch-kulturellen Kollektivs zu verstehen, das sich gegen die Bourgeoisie richtet, fällt diese Option mit dem Aufschwung der postindustriellen Ökonomie und der Kreativwirtschaft endgültig weg. In der Spätmoderne wird das Subjekt zum Unternehmer seiner selbst, in der es sich nicht mehr in Abgrenzung zu einem beherrschenden kapitalistischen Anderen konstituiert. Statt dem Gefühl der Solidarität, auf das die Arbeiterklasse angesichts ihrer gemeinsamen Misere noch bauen konnte, sieht sich das spätmoderne Subjekt mit einem Gefühl der Leere konfrontiert. Ihm gegenüber erstreckt sich ein undurchschaubarer, dezentraler Markt, in dem es sich für jedes Scheitern nur selbst verantwortlich machen kann.

Diese eigentümliche Doppelstruktur des spätmodernen Subjekts als Täter und Opfer einer entfremdeten Gesellschaft macht kapitalismuskritische Analysen nicht obsolet, sondern dringend notwendig. Allerdings sind die Schlussfolgerungen, wie sie teilweise im postkolonialen Aktivismus gezogen werden, mehr als zweifelhaft: Die Widersprüchlichkeit der Moderne lässt sich nicht lösen, indem man über ihre Widersprüche völlig hinwegsieht. Das große Missverständnis postkolonialer Kapitalismuskritik besteht darin, dass Kritik am ideengeschichtlichen Universalismus formuliert wird, während man eigentlich die Ausbeutungspraktiken seines rein wirtschaftsliberalen Pendants meint.

Indem der westliche Universalismus dabei als weiß und jüdisch imaginiert wird, offenbart sich nicht nur die antimoderne, gegen das Individuum gerichtete Haltung jener Interventionen, sondern entfesselt sich zugleich eine neue antisemitische Sprengkraft. In vielen postkolonialen Analysen des Kapitalismus wird das Abstrakte – das Finanzkapitel, der Aktienhandel, Smith’s unsichtbare Hand – als jüdisch identifiziert, während das Konkrete – die ehrliche Arbeit, authentische Kultur, das Industriekapital – glorifiziert wird. Damit einher geht das Phantasma, dass „gerade Jüdinnen und Juden diejenigen seien, die Profit aus Kapitalismus und Finanzkrise schlagen“ (Salzborn: 2018. S. 105).

Diese Projektion ist nicht nur einer der ältesten antisemitischen Taschenspielertricks, sondern verrät zugleich viel über die autoritären Sehnsüchte, die ausgerechnet bei denen am lautesten zu vernehmen sind, denen die Kritik von Rassismus und Diskriminierung eine Prestigefrage sind: Für die Verteidigung marginalisierter, ethnischer Gruppen und die Kritik an ihrer Repression braucht es Verantwortliche, die der eigenen Soziallogik entsprechend in Kollektivhaft genommen werden können. Als Protobeispiele dafür, dass multiethnische Staaten trotz der Widersprüche der Moderne bestehen können, dienen Israel, aber auch die USA als identitätsstiftende Projektion. Jüdinnen und Juden werden dabei nicht als Individuen, sondern – gemäß der unterstellten Machthegemonien – als einheitlich agierendes Kollektiv imaginiert.

Macht und Mythos

Selbstverständlich gibt es Formen des strukturellen Rassismus in der Gesellschaft, der immer schon gegenwärtig war: man denke an das Verhältnis zwischen Racial Profiling und Polizeigewalt. Dennoch ist die Intention des Rassisten eine andere als die des Antisemiten, weshalb sich letzterer auch in den Reihen derer wiederfinden lässt, denen jede Form der Repression und Diskriminierung ein Dorn im Auge ist. Rassisten diskriminieren ihre Opfer und sehen sich in Konkurrenz zu ihnen, sei es um Arbeitsplätze, politische Repräsentation oder Teilhabe an öffentlichen Gütern. Die Angst vor dem sozialen Abstieg begünstigt rassistische Ressentiments gegen alles Fremde. Spezifisch für den Antisemiten hingegen ist die Witterung einer Verschwörung. Antiimperialistische Akteure, deren Goliath die USA sind oder die globalisierungskritische Occupy-Wall-Street-Bewegung, die sich einem personifizierten Finanzkapital glaubt entgegenzustellen, eint der Hass gegen die Mächtigen. Ihre Agenda ist nicht die Ausgrenzung eines als minderwertig empfunden Anderen, sondern der Widerstand gegen einen als übermächtig imaginierten Mythos. Es bleibt zweifelhaft, wie sehr sich das postkoloniale Machtdispositiv, das den ideengeschichtlichen Universalismus relativiert, während es die Konstruktion von kulturalisierten Diskursorten forciert, als Lösung für dieses Dilemma eignet. In postkolonialen Kapitalismuskritiken wird Macht zum Prinzip einer vernunftkritischen Geschichtsschreibung verklärt, in der Subjekte nur als Plural fixierter Disziplinarregime auf den Plan treten.

Vielleicht gründet darin der Komfort vieler Aktivisten, notwendige Kapitalismuskritik auf die Frage nach diskursiven und kulturellen Identitäten zu reduzieren: Ist man einmal auf der Seite der Marginalisierten, erscheint die Welt wieder binär und begreifbar. Soweit, so schlecht; denn die Wirklichkeit ist nicht nur Konstrukt diskursiver Praktiken, sondern das Produkt materialistischer Tätigkeit: Dass wir uns selbst und die Natur verwerten und unterjochen, liegt nicht am Diktat hegemonialer Mächte, sondern bleibt das Resultat selbstverschuldeter Misere. Man kann sich an dieser Stelle auf die Suche nach Sündenböcken machen, die man im Zweifelsfall in dem Westen zu finden glaubt, oder man ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe, indem nicht nur über Identität, sondern auch über materielle Verteilungsfragen streitet. Das Gute an unbezahlbaren Mieten, einer zerstörten Umwelt und den Abgründen der Ellenbogengesellschaft ist schließlich, dass wir alle davon betroffen sind, sodass auf universelle Emanzipation zu hoffen bleibt.

Literatur

Salzborn, Samuel: Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim: Beltz Juventa, 2018.

von Niko Gäb
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