9. November 1993 – Zerstörung oder Tod der Stadt Mostar?

19.11.2020

„Der schlanke steinerne Schatten, die Replik des himmlischen Regenbogens, Meisterwerk des Baumeisters Hajrudin, eine der schönsten und edelsten architektonischen Allegorien, ist dahingegangen auf den Grund des Flusses. Der Stadt, geboren im Zeichen der Brücke, entrissen wurde ihr erstes und letztes Wort, und ihr Tod ist, so fürchte ich, unwiderruflich“ (Bogdanovic, S. 139). Ähnlich wie Bogdanovic empfand auch der kroatische Franziskaner – Pater Daniel, als er sagte „Der Tag, an dem die alte Brücke zerstört wurde, war der Todestag unserer Stadt. […] Als sie fiel, war das Herz der Stadt Mostar zerstört“ (Koschnick, Schneider, S. 8-9).

9. November 1993 – Zerstörung oder Tod der Stadt Mostar?
Alte Brücke und der mittelalterliche Stadtkern in Mostar im August 2019 © Suada Matas

Bevor nach den identitätsstiftenden Strukturen gesucht wird, die als Konsequenz aus der Brückenzerstörung herausgegangen sind, soll zunächst die Unterscheidung zwischen der Zerstörung und dem Tod einer Stadt geklärt werden. Der Historiker Bogdanovic, als er nach der Unterscheidung gefragt wurde, fasst diese wie folgt zusammen: „[…] Eine Stadt die ‚nur‘ zerstört ist, also nur niedergelegt ist, wird sich irgendwie wieder sammeln. Sie wird, dermaleinst, ihre physischen und gei­stigen Konturen wiederfinden; […] Aber […], es muss eine Grenze der Zerstörung geben […]“ (Bogdanovic, S. 138).

Die Alte Brücke in Mostar lässt sich zweifelsohne als das Herzstück der Stadt ansehen. Ursprünglich nur aus strategischen Gründen gebaut, verband sie fast fünf Jahrhunderte die Flussufer der Neretva und galt als Symbol für die multikulturelle Gesellschaft von Mostar und Bosnien und Herzegowina. Ihre Bedeutung zeigt sich auch im Namen, den sie der Stadt gab, sowie in der Mythen- und Legendenbildung, mit der sie umgeben und verwachsen ist. Während Europa am Anfang der 1990-er Jahre sich annäherte und die Berliner Mauer als Trennwand zwischen West – und Ostdeutschland am 9. November 1989 ‚fiel‘, ‚fiel‘ die Alte Brücke am 9. November 1993 in Mostar und symbolisierte die Trennung der Stadt und der Kulturen. Mit der Zerstörung der Brücke wurden nicht nur die Stadt und die Menschen getrennt, es kam auch zur Spaltung der Identitäten.

Der Angriff auf die Brücke wurde von den bosnischen Muslimen als Angriff auf die bosnische Kultur und Tradition angesehen, nachdem die Kroatische HVO die Brücke bombardierte, während sie für die Serben offensichtlich kein exklusive muslimisches Identifikationsmerkmal war. Es ist noch unklar, ob die HVO die Brücke zerstörte, weil sie mit ihr die muslimische Identität verbunden hatte (Gunzburger-Makas, S. 13-15). Fest steht allerdings, dass die Zerstörung der Brücke die multikulturelle Gesellschaft in Mostar entzweite, und neue Identitätsmuster konstruierte. Orthodoxe Serben leben kaum noch in Mostar, und bosnische Kroaten und Muslime teilen sich die Stadt.

Durch den Akt der Zerstörung, wurden Mostar und die Bürger in zweifacher Hinsicht verändert. Zum einen, verlor die Stadt ihr Wahrzeichen. Zum Anderen verlor sie die Verbindung mit ihren Bürgern und die Multikulturalität, wofür sie in der Region repräsentativ stand. Die metaphorische Bedeutung der Brücke als Verbindung von Menschen und Kulturen, aber auch als Trennung derselben, lässt sich hierbei gut veranschaulichen. Wo ursprünglich eine Verbindung existierte, wurde in der Wahrnehmung der Bürger eine Trennwand. Daraus sind neue Identitätsmuster entstanden. Aus einem „wir“, wurde „wir und die anderen“. Die territoriale und metaphorische Trennung der Stadt, veränderte zudem das individuelle Gedächtnis und trägt außerdem zur Bildung einer neuen kollektiven Erinnerung bei. Diese neue Identitätskonstruktion schuf einen zweiten Erinnerungsort. Einen Erinnerungsort der Sieger und Verlierer, der Täter und Opfer.  Auch wenn sie unterschiedliche Sichtweisen vertreten und auf unterschiedlichen Seiten des Flusses leben, in ihrer Leidensgeschichte sind die Bürger von Mostar verbunden. Unabhängig von der Ethnie oder Religion, gilt es an ein Verbrechen zu erinnern, es zu verarbeiten und in die Geschichte einzuordnen.

Die Bedeutung der Brückenmetapher innerhalb der Erinnerungskultur diskutiert die amerikanische Historikerin Emily Gunzburger – Makas (Gunzburger-Makas, S. 17-18). Einerseits bedarf es dabei nicht eines visuellen Objektes, denn seine metaphorische Bedeutung hält die Erinnerung am Leben.  Andererseits erleichtert die physische Wahrnehmung des Objekts den Erinnerungsprozess und schützt vor dem Vergessen. Die Gefahr war zu groß, dass die Vielfalt der bosnischen Gesellschaft, für die auch Mostar und die Alte Brücke standen, in Vergessenheit geriet. Deshalb war die Rekonstruktion der Brücke wichtig. Die metaphorische Bedeutung der Alten Brücke war nach ihrer Zerstörung zu groß, als dass die Stadt als „tot“ hätte bezeichnet werden können. Auch nachdem sie physisch nicht mehr vorhanden war, die Erinnerung an sie und ihre durch Jahrzehnte tradierte Geschichte war lebendig. Die Gesellschaft von Mostar ist zwar geografisch getrennt und religiös entzweit, aber in der Erinnerung an die Zeit vor dem Krieg und die Zerstörung ist sie verbunden.

An diesem Punkt ließe sich die Unterscheidung zwischen „Zerstörung“ und „Tod“ der Stadt festmachen und eine Grenze ziehen. Der historische Stadtkern und die Alte Brücke wurden physisch zerstört, aber die kollektive Erinnerung der Gesellschaft, die durch die individuellen Erfahrungen eines jeden Mostarers, unabhängig von der Ethnie oder Religion geprägt ist, war ihre Rettung. Die Relevanz für die Erinnerungskultur unterstreichen auch die Worte des damaligen Bürgermeisters und  Hauptverantwortlichen für ihren Wiederaufbau, Safet Orucevic, der sagte: „[…] It will symbolize the union of a people and [the] indestructibility of the idea of a shared life between different cultures, peoples and religions“ (Zit. nach Gunzburger-Makas, S. 21). In dieser metaphorischen Bedeutung spiegelt sich das multikulturelle Identitätsbewusstsein der Gesellschaft von Mostar und der Region, das jegliche Grenzen und Zerstörungen zu überbrücken vermag.

Literatur

Bogdanovic, Bogdan: Architektur der Erinnerungen. Klagenfurt, Salzburg 1994.

Koschnick, Hans, Schneider, Jens: Brücke über die Neretva. Der Wiederaufbau von Mostar. November 1995.

Gunzburger – Makas, Emily: Representing Multinational Bosnian Identity: The Bridge Metaphor and Mostar's Stari Most. Paper presented at the conference Con/De/Recon-struction of South Slavic Architecture, History of Architecture and Urbanism Program, Cornell University, March 2001.

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in Rezensionen  |  von Suada Matas

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